Der Mann, der aus den Quadraten fiel

2. Mai 2010 | Von | Kategorie: Allgemein

Der Mann, der aus den Quadraten fielWas hat Oskar Schlemmers Triadisches Ballett mit seinen konstruktivistischen Figurinen, Jurek Beckers Roman »Irreführung der Behörden«, Edgar Allen Poes und Franz Kafkas Erzählungen mit Mannheim, der Quadratestadt, zu tun? Georg Brenneis, Ich-Erzähler und Protagonist in Rolf Bergmanns Roman »Der Mann, der aus den Quadraten fiel«, weiß es und erklärt es …

Georg Brenneis, Jahrgang 1959 und in Bad Nauheim aufgewachsen, arbeitet Mitte der achtziger Jahre in einem weltbekannten Elektrokonzern in Mannheim als Industriekaufmann. Er bewohnt eine kleine Dachwohnung in einem der stolzen bürgerlichen Mietshäuser an der Augusta-Anlage. Er ist mit Lilo, Sekretärin in einem Vertriebsbüro einer französischen Konservenfabrik, befreundet, außerdem scheint er der SPD nahe zu stehen und gewerkschaftlich organisiert zu sein. Vor allem betätigt er sich als Freizeitliterat. Im Dezember 1986 entschließt er sich, sein Hobby zum Hauptberuf zu machen.

Zusammen mit anderen Zeitgenossen aus Mannheim, dem Betriebsingenieur Heiner Bremerisch, dem Schriftsetzer Tilman, dem Verkäufer Alfons Textor, dem Rentier Harry, der Chefsekretärin Doris, der Mutter zweier Kinder Eva-Maria und Gertraud hat er den »Club der lebenden Dichter« gegründet. Dieser trifft sich in der Gaststätte »Goldene Gans« zum literarischen Stammtisch. Dort lesen sie sich ihre Texte, Gedichte und kurze Erzählungen, vor und stellen sich kollegialer Kritik.

Manche dieser Texte wurden schon in der »Bäckerzeitung«, einer provinziellen Literaturzeitschrift oder der örtlichen Tageszeitung »Morgen« veröffentlicht und der regionalen Sendeanstalt angeboten. Aufgrund eines solchen Manuskriptangebotes, einer Erzählung über das Benzdenkmal am Eingang der Innenstadt, erhält Georg Brenneis im Spätherbst 1986 unerwartet eine Einladung ins Funkhaus in Stuttgart. Dort wird gerade eine Großveranstaltung zum 100jährigen Firmenjubiläum des weltbekannten Automobilunternehmens mit dem »Stern« vorbereitet. Sie wurde vom Unternehmen gesponsert und von diesem inhaltlich gestaltet, so dass der Hauptabteilungsleiter der Anstalt, dem Georg die Einladung zu verdanken hat, dessen Text nicht unterbringen kann.

In Stuttgart besucht Brenneis die Staatsgalerie und schaut sich Oskar Schlemmers Figurinen aus dem »Triadischen Ballett« an, die, wie ihm scheint, obwohl unbeweglich »den Raum zum Schwingen« bringen und ihn einladen in dem Ballett mitzutanzen:

»Meine Arme und Beine zucken unwillkürlich, winkeln sich, strecken sich, fangen an, ausdrucksstarke, dem Alltag fremde Bewegungen vollführen zu wollen.«(S. 15)

Diese, dem Alltag nicht angepassten Bewegungen, vollführen auch einige von Georgs Bekannte, weshalb er sie mit Schlemmers Figurinen vergleicht: der »Scheibentänzer« könnte Heiner Bremerisch sein, der zwischen »Beruf und Berufung pendelt und die jeweils passende Seite für seine Umgebung zum Vorzeigen parat halten muß« (S. 16), der »Taucher« Alfons Textor, »der überall und nicht unerwartet zum Vorschein« kommt und der »einäugig Abstrakte mit seinem gespaltenen Gesicht«, dessen eine Hand als Klöppel einer großen Glocke ausgebildet ist, während die andere Hand »eine formvollendete bronzierte schlanke Keule« hält, der Dozent Dr. Reimar Kroll (S. 17). Er selbst sieht sich in weiser Voraussicht als »Harlekin, der Tänzer türkisch«. Tatsächlich scheitert er später auf der Bühne des Literaturzirkusses, auf die er sich nach dem plötzlichen Tode seines Mentors Heiner, der sein geplantes Rentnerschriftstellerdasein nicht mehr erleben konnte, und aufgrund des Hinweises des Betriebsrates Herbert, sich zum ersten Januar 1987 arbeitslos zu melden und sein Probejahr als Schriftsteller mit Hilfe des Arbeitslosengeldes zu bestreiten, begeben hatte, um mit dem geplanten Roman »Das Selbstmörderhaus« zu debütieren.

Auch der vom Betriebsrat ausgeheckte Plan der »Irreführung der Behörden« entspricht in der Realität nicht Jurek Beckers Romanvorlage. Während dessen Protagonist Gregor Bienek erfolgreich Ostberliner Universitätsbehörden ein Jurastudium vorschwindeln kann und die Zeit nutzt, seine Schriftstellerkarriere aufzubauen, die ihn schließlich zum erfolgreichen Drehbuchautoren aufsteigen lässt, scheitert Georgs Versuch der Irreführung des Arbeitsamtes in doppelter Weise: einerseits am engstirnigen, misstrauischen Sachbearbeiter Sprengel, für den Brenneis ein ausgemachter Alkoholiker ist und der diese Einschätzung auch aktenkundig festhält, und andererseits an den Bestimmungen des Arbeitsamtes, jederzeit für das Amt erreichbar zu sein.

Georg war jedoch drei Tage für das Amt nicht erreichbar und erhält deshalb eine Sperre seines Arbeitslosengeldes. Nachdem er sich erfolglos bei einer Holzfirma als kaufmännischer Angestellter vorgestellt hat, wird er unvermittelt von einem Fernfahrer, der Klosettpapier ausliefern soll, als Gelegenheitsarbeiter angeworben, kommt so wieder in die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart und erhält auf Empfehlung des bekannten Lyrikers Amsel Dörrfeld, dem er zufällig begegnet ist, Zugang zum Schriftstellerhaus. Dort lernt er nicht nur den »kleinen« Literaturbetrieb kennen, sondern auch zwei Schriftstellerinnen, die als Stipendiatinnen im Haus wohnen. Mit einer von ihnen verbringt er die Nacht. Als Georgs Freundin Lilo davon erfährt, verlässt sie ihn.

Gleichzeitig findet Georg Brenneis als Schriftsteller »sein« großes Romanthema. Eine ältere Hausbewohnerin erzählt ihm von mehreren Selbstmorden, die sich im Laufe der Zeit im Haus ereignet hatten – zuletzt hatte sich sogar Georgs Etagennachbarin umgebracht – und Georg entschließt sich, einen Kriminalroman mit dem Titel »Das Selbstmörderhaus« zu schreiben. Und nachdem ihm endgültig das Arbeitslosengeld gesperrt wurde, braucht er sich auch nicht mehr als Arbeitsloser zu tarnen, sondern kann jetzt offen als freier Schriftsteller auftreten: »Im Fastnachtsmonat Februar wird aus mir ein echter Berufsschriftsteller, der nur noch von seinem Honorar lebt.« (S. 188)

Doch davon lebt es sich so schlecht, dass er seine Wohnung verliert, in ein Behelfsquartier in einem alten Speicher in der Mannheimer Hafengegend umziehen und vom letzten gesparten Geld leben muss. Zuletzt tauscht er sogar noch, um überleben zu können, seine elektrische Schreibmaschine gegen eine mechanische ein.

Es gelingt ihm tatsächlich seinen Kriminalroman mit zehn toten Mietern zu vollenden. Dr. Kroll tadelt einerseits die Figurengestaltung, das Konstruktionsprinzip und den Erzählstil, lobt andererseits jedoch die im Roman angelegte Gesellschaftskritik, versteht er doch das Mietshaus als Metapher für die kapitalistische Wirtschaftsordnung, die den Menschen keine Möglichkeit gebe, sich zu behausen.

Der Roman »Das Selbstmörderhaus« wird nie erscheinen und sein Autor im Oktober 1987 »in der Menge« verschwinden. Zurück bleiben nur Tagebuchaufzeichnungen und ein Sohn namens Silvester, der 2008 die Veröffentlichung des Nachlasses seines Vaters erlaubt.
*
Rolf Bergmann hat einen amüsanten, lockeren und lesbaren Roman geschrieben – eine feinsinnige ironische Hommage an das Leben in Mannheim vor fünfundzwanzig Jahren mit vielen Anspielungen auf regionale, politische und literarische Geschehnisse, authentische Schauplätze und leicht entschlüsselbaren Akteuren der Quadratestadt Mannheim in den 1980er Jahren, auf deren Bühne ein »komisch-groteskes Ballett« aufgeführt worden ist zum »Wesen von Gefühl und Verstand und soundsoviel weiteren Dualismen« (Oskar Schlemmer). [Gast-Beitrag von Wilma Ruth Albrecht © bei der Autorin]

Rolf Bergmann: Der Mann, der aus den Quadraten fiel, 240 S. Verlag der Villa Fledermaus, Hemsbach 2009, ISBN 978-3-932683-54-1
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