Mit Onkel Bora unter den Tisch gesoffen

26. September 2006 | Von | Kategorie: Literaturveranstaltungen

Der Mannheimer Heinrich-Vetter-Literaturpreis 2006 wurde am Sonntag, 24. September, in der Mannheimer Kunsthalle vergeben. Ausgeschrieben worden war er von “Die Räuber´77″ Literarisches Zentrum Rhein-Neckar e.V. für Prosabeiträge zum Thema “Wo bin ich zu Hause”. Der 1. Preis (mit 1000 Euro dotiert) geht an Michael Lenzinger (Wien), der 2. Preis (500 Euro) an Daniel Schreiber (New York) und der 3. Preis (250 Euro) an Sasa Stanisic. Die Reihenfolge der Preisträger kann man als souveräne Entscheidung einer unabhängigen Jury interpretieren oder aber als Resistenzfähigkeit gegen literarische Qualität.

Daniel Schreibers Text “Aus der Ferne” schildert die Seelenlage einer Übersetzerin, die aus Deutschland stammend über Paris nach New York gelangt ist. Gefühlvoll und dennoch unsentimental schafft es Schreiber, Heimat in der Sprache und in der Nähe sowie Heimat geographisch, in der Erinnerung und eben aus der Ferne zu verorten. Schreiber präsentierte sich – passend zur Geschichte – aus der Ferne auf DVD. Er las einen gelungenen, in sich stimmigen Text, der am Ende das einlöste, was er in der Überschrift versprochen hatte. Der zweite Platz für diesen Beitrag ist eine Entscheidung, die man uneingeschränkt akzeptieren kann.

Lenzingers Siegergeschichte “Wie sich die Fliege im Netz zu Hause wähnt” – vom “Mannheimer Morgen” als “Sieger-Text mit sozialer Komponente, Witz und Tiefgang” bezeichnet, enttäuscht thematisch und sprachlich auf der ganzen Linie. Der 9 jährige Knirps, der sich unter Papas Schreibtisch neben dem surrenden Computer wohlfühlt, ist ein extrem altkluges Kerlchen. Er sieht im Computer nicht nur einen direkten Mutterkonkurrenten sondern auch ein “Schattenbrüderchen” von sich selbst. Dieser Knirps schlingt “seine eigenen Arme um sein zitterndes Selbst” – “Arme, die sich so schwach und zerbrechlich anfühlten, als wären sie vertrocknete Äste, die sich vom kleinsten Luftzug verbiegen liesen.” Ein trockener Ast im Winde bricht. Schräge Metaphern und falsche Bilder verbiegen den Text bis hart an die Grenze zur Unglaubwürdigkeit.

Sasa Stanisic reichte als Wettbewerbs-Text einen Brief ein; einen Brief von Alekßandar an Asija. Alekßandar ist mit seiner Familie aus Bosnien nach Deutschland geflohen, Asija in Sarajewo geblieben. Ihr erzählt er vom Leben in einem neuen Land, von Mutter, Vater, Onkel Bora und Oma Fatima und ihren Schwierigkeiten, sich zurechtzu finden. Texte von Stanisic sind prädestiniert für das ausgeschriebene Thema, es ist sein eigenes. Er hat dafür auch seine eigene literarische Sprache gefunden. Im letzten Jahr gewann er damit in Klagenfurt den Publikumspreis und steht aktuell auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. (siehe Beitrag v. 12.9.06) Während der Preisverleihung in Mannheim, wurde Stanisic in sein Amt als Stadtschreiber in Graz eingeführt; sein Text wurde von der Schauspielerin Sigrid Meßner vorgetragen. Ein Glück für die Veranstalter, denn Stanisic ist ein excellenter Vorleser. Die wenigen Anwesenden im Heinrich-Vetter-Forum, hätten sofort erkannt, welch Missgriff der Jury bei ihrer Entscheidung unterlaufen ist. Ich hätte mich aus lauter Scham am liebsten mit den beiden Musikern, die den “Festakt” begleiteten, Onkel Bora und Oma Fatima unter den Tisch gesoffen.

(siehe auch: Leselust und Räuberfrust)

Artikel weiter empfehlen

Um Artikel über soziale Netzwerke weiterzuverbreiten, müssen Sie diese aktivieren - für mehr Datenschutz.

Keine Kommentare möglich.